Wilder Ritt durch die Erdgeschichte

Mit Glarus verbinden wir hohe Berge. Felsenfest und unverrückbar stehen sie da. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich: alles nur eine Frage der Zeit! Im Kanton Glarus steht kein Stein da, wo er einmal war. Auch ein Kalkband spielt dabei eine Rolle. Foto: Touristinfo Glarnerland

Elsbeth Flüeler

Glarus ist auf Lehm und Geröll gebaut: Bergstürze vom Vorder Glärnisch brachten mehr Schutt als Schotter ins Tal. Foto: Touristinfo Glarnerland

Die Lochsiten liegt in Manhattan, New York, Ecke Columbus Avenue und 77th bis 81th Street, und wird jährlich von Millionen von Menschen besucht. Die Lochsiten, besser gesagt New Lochsiten, ist eine Kopie und ein Exponat im American Museum of Natural History. Das Original findet man in Glarus Süd, auf der Höhe 46°59’46 Nord und 9°05’35 Ost ganz genau. Das sind die Koordinaten eines schmalen, unscheinbaren Felsbands. Ein unterer Teil bröckelt vor sich hin. Ein oberer Teil steht einen Meter vor, ist überhängend, bildet eine Balme, eine Gesteinsnische. Lochsiten heisst der Ort, weil Luchse, als sie im Kanton Glarus noch häufig waren, hier Unterschlupf suchten.

Einmalig, einzigartig

So abgelegen, so unscheinbar der Ort auch scheint, für Geologen weltweit ist er ein Mekka. Denn bei der Lochsiten liegen zwei geologische Schichten verschiedenen Alters aufeinander: 260 bis 290 Millionen Jahre alter Verrucano und «nur» 35 Millionen Jahre alter Flysch. Das allein jedoch hätte den Ort noch nicht so bedeutend gemacht. Einzigartig ist er, weil hier die Zeit auf den Kopf gestellt ist. Der sehr viel ältere Stein liegt über dem sehr viel jüngeren, mit einem dünnen, stark verformten Band aus Kalk dazwischen – Lochsitenkalk nennen es die Geologen. Die Formation löste ein wissenschaftliches Erdbeben aus. Wegen der zeitlich verkehrten Reihenfolge der Schichten wuchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einsicht – und das ist der springende Punkt –, dass sich die Gesteinsschichten nicht nur ver-, sondern auch überschoben hatten. Die Erkenntnis machte die Lochsiten so bedeutsam, dass seit mehr als 120 Jahren Geologen aus aller Welt anreisen, um den Ort zu sehen, wie 1998 das Team aus New York. Mit Silikon stellten sie einen Abguss der Lochsiten her, rollten ihn auf, transportierten ihn per Flugzeug nach New York und bildeten auf Übersee die Felsen originalgetreu nach. Seither stehen drei Meter Lochsiten in der «Hall of Planet Earth». Anhand der New Lochsiten wird erklärt, wie Berge entstehen.

Ein schwieriges Pflaster

Die Steine der Trockenmauern bei Ennenda sind unterschiedlich alt. Foto: Elsbeth Flüeler

Was für die Lochsiten gilt, das gilt auch für den ganzen Kanton. Das zeigt die Wanderung von Glarus zur Lochsiten. Kaum ein Stein liegt hier an seinem ursprünglichen Platz. Die Erdoberfläche, das wird mit jedem Schritt klarer, ist weder starr noch fest. Im Gegenteil, sie ist in ständiger Bewegung. Nur eben in ihrem eigenen Tempo und ihrer eigenen Zeit, die bereits 4,6 Jahrmilliarden dauert. Gemessen daran nehmen sich die Phänomene, welche unsere Landschaft prägen, die Eiszeiten mit den Gletschern oder die Bergstürze, wie Wimpernschläge aus. Mehrere dieser Wimpernschläge mussten die Baumeister der Stadt Glarus bewältigen. Als sie vor 155 Jahren – nach dem Brand von 1861, der Glarus über Nacht in Schutt und Asche gelegt hatte – die Stadt von Grund weg neu bauten, eine moderne Stadt, schachbrettartig angelegt, wie Manhattan, mit einer Bahnhofstrasse die sich wie der Broadway quer über das Strassennetz legt, da taten die Baumeister einen tiefen Blick in den Untergrund. Was sie sahen, konnte sie kaum erheitern. Auf der Höhe der Kirche, wo man auf stabilen Untergrund für die Türme gehofft hatte, gab es Lehm und Geröll, ja sogar Torf. Daneben war der Boden ein Gemisch aus schlechtem Stein, mehr Schutt als Schotter. Ganz offensichtlich hatten Bergstürze vom Dejenstogg und vom Vorder Glärnisch den Ort viele Male überfahren und mit ihrem Material sogar einen See gestaut, der mit der Zeit verlandet war. Trotz denkbar ungünstigen Voraussetzungen gelang es den Baumeistern dann doch, eine eindrückliche Stadt zu bauen.

Geologische Zeiten durchmischen

Einen weiteren Beweis, wie bewegt die Erdgeschichte von Glarus ist, geben die Trockenmauern, die den Weg nach Ennenda säumen. Da liegen rote Steine unter, über und neben grünen und grauen Steinen. Hier wird die Erdgeschichte zum wilden Ritt durch die Zeit. Verrucano heissen die rötlichen Steine, oder Sernifit, womit ihre Herkunft östlich von Glarus, unter anderem aus dem Sernftal, verraten ist. Sie sind bis zu 300 Millionen Jahre alt. Die grauen Steine stammen aus der Jura- und der Kreidezeit, sind 100 bis 180 Millionen Jahre alt und kommen von den Bergen westlich von Glarus. Die grünen Steine schliesslich sind vielfach vulkanischen Ursprungs und entstanden, lange bevor es die Alpen gab. Auch südlich von Ennenda ist nichts, wie es ursprünglich einmal war. Hier haben die Schwerkraft und die Eiszeit als Gestalterinnen gewirkt. Die Landschaft zwischen Uschenberg und dem Dorf Sool ist das Relikt eines Bergsturzes, der Ende der letzten Eiszeit vom Guppen herunterfuhr. Auf unvorstellbare 800 Millionen Kubikmeter Stein wurde die Bergsturzmasse berechnet, was einem Volumen von sagenhaften 760 Empire State Buildings entspricht. Kurz: Sehr viel Fels und sehr viel Stein donnerten damals ins Tal, prallten bei Sool auf den gegenüberliegenden Hang, wo ein Teil der Felssturzmasse als gewaltige Brandungswelle liegen blieb. Der andere Teil schoss nach Norden, zum Tal hinaus. Erst kurz vor Ennenda kam er zum Stehen. Sanft und grün sind die Bergsturzhügel heute, da vom Gletscher später überfahren und überformt. Der Uschenberg ist mit Wiesen und Weiden bedeckt und mit einem Netz von Hecken in Grundstücke unterteilt. Nur die paar Findlinge aus rotem Verrucano, die der Gletscher mit seinem Abschmelzen liegen gelassen hat, wollen nicht so recht ins arbeitssame Landschaftsbild passen. «Zum Andenken an Jakob Oberholzer (1862–1939)», ist auf einer Messingplatte zu lesen, «dem Erforscher der Geologie der Glarner Alpen».

Springendem Punkt auf der Spur

Oberholzer war Sekundarlehrer und machte sich sehr um die Erforschung der Erdgeschichte im Kanton Glarus verdient. Er wurde just in jene Zeit geboren, als die Koryphäen der Geologie rund um das Der Name Lochsitenkalk steht sinnbildlich für die Entstehung der Berge. Phänomen an der Lochsiten die wissenschaftlichen Klingen miteinander kreuzten. Zwar hatten sie schon lange das Unfassbare geahnt, dass eben die Schichten sich verschoben und überschoben hatten. Wie Felsen in der Brandung hielten sie jedoch an der Theorie fest, dass sich die Erdoberfläche abgekühlt habe und dabei geschrumpft sei wie eine Orange und die Berge somit nichts weiter seien als eine grosse schrumpelige Haut mit vielen Falten. Und die sich überlagernden Schichten bei der Lochsiten? Diese interpretierten sie als «überkippte» Falten. «Theorie der Glarner Doppelfalte» nannten sie das gedankliche Konstrukt. Es brauchte jüngere Geologen, bis die neue Lehre der ver- und überschobenen Gesteinsschichten anerkannt wurde. Damit aber war endlich der Grundstein für viele neue, interessante Erkenntnisse gelegt: Dass sich die älteren Gesteinsmassen mit vier Millimetern Geschwindigkeit pro Jahr über die jüngeren geschoben hatten, dass der Prozess insgesamt zehn Millionen Jahre gedauert und in zehn Kilometern Tiefe stattgefunden hatte, bei 350 Grad Celsius, einer Temperatur und einem Druck, der sogar festen Stein plastisch macht. Das schmale Band aus Kalk zwischen Flysch und Verrucano hatte den Gesteinsschichten als Gleitschicht gedient. Den Namen Lochsitenkalk trägt es seither auch sinnbildlich für die Entstehung der Berge.

Die Zeit steht Kopf: 260 bis 290 Millionen Jahre alter Verrucano hängt über «nur» 35 Millionen Jahre altem Flysch. Dazwischen ein Band aus Kalk: Dank ihm schob sich die ältere Gesteinsschicht über die jüngere. Foto: Elsbeth Flüeler, Grafik: Medianovis

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